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VICE: "Wie ernst ist unsere Smartphone-Sucht wirklich?"

VICE: "Wie ernst ist unsere Smartphone-Sucht wirklich?" VICE

Generell tendieren wir ja gerne dazu, große, bedeutungsschwangere Wörter so lange auszulutschen, abzuhobeln und durchzukauen, bis von ihrer ursprünglichen, "großen" Bedeutung nicht mehr viel übrig ist. "Burnout", "Gutmensch" oder "Nachhaltigkeit" sind alles Begriffe, die in den vergangenen Jahren so inflationär gebraucht wurden, dass sie heute nicht viel mehr als leere Worthülsen sind. Sogar die Frisur meiner Katze ist jetzt irgendwie nachhaltig.

Und da sind wir noch nicht mal bei Phrasen wie "Ich sterbe", "Bin am Verhungern" oder so schönen Anglizismen wie "Slay" angekommen—verwende ich zwar regelmäßig, wirklich erschlagen möchte ich aber eigentlich niemanden. Genauso wenig wie ich an einer Suchtkrankheit leiden möchte. "Süchtig" sind wir nämlich heute nicht mehr nach Dosenbier und Koks. Wirklich süchtig sind wir—so sagen wir zumindest—nach Stranger Things, nach Humus, nach dem Beyoncé-Album und manche Hardcore-Hackler sogar nach Arbeit. Und wenn wir uns die Zeit mit Games vertreiben möchten, dann "süchteln" wir FIFA.

Damit meinen wir keine tatsächlichen Suchtkrankheiten, die uns körperlichen Schaden zufügen oder sogar umbringen könnten—und meistens noch nicht mal wirkliche psychische Abhängigkeiten. Vielmehr beschreiben wir so, wie leicht wir in gute 80er-Serien reinkippen oder dass ein Leben ohne Humus zwar möglich, aber für uns total sinnlos ist. Es sind First-World-Problems und nicht jeder Mensch hat dieselben. Aber unter diesen zahlreichen modernen "Suchtkrankheiten", die eigentlich keine sind, gibt es aber eine, die uns wahrscheinlich alle angeht: Die Smartphone-Sucht.

Man möchte zunächst glauben, es wären unsere Eltern und Großeltern gewesen, die uns diese vermeintliche Sucht attestiert haben. Die Generation, die uns immer so biestig als "Jugend von heute" bezeichnet. Im Prinzip die selben alten Leute, die auch beschlossen haben, "Smombie" wäre jetzt ein "Jugendwort".

Sie sind in der Regel gänzlich ohne Handys, allerhöchstens noch mit Wählscheiben-Telefon aufgewachsen und können unseren inneren Drang nach Notifications einfach nicht nachvollziehen. Wie sollten sie auch? Ihre einzig logische Erklärung: Die Jugend von heute ist verseucht, verstrahlt, einer krankhaften Handysucht zum Opfer gefallen.

Natürlich ist es einfach, unseren Eltern ihre eigene technische Inkompetenz vorzuhalten, um damit unser exzessives Nutzerverhalten zu rechtfertigen. Einfach und irgendwie auch lustig. Aber was, wenn wir tatsächlich krank sind? Was, wenn sie Recht haben? Erfahrungsgemäß wäre es zumindest nicht das erste Mal. Und wenn meine schlimmsten Albträume inzwischen davon handeln, dass mein Handy kaputtgeht, sollte ich mir dann vielleicht Sorgen machen?

Dass Smartphone-Sucht tatsächlich ein reales Problem ist, für dessen Lösung auch eine gesellschaftliche Nachfrage besteht, zeigt sich ironischerweise im Aufkommen von Anti-Handy-Apps. Ungefähr so wie Zigaretten, die einem das Rauchen abgewöhnen sollen.

Eine davon ist "HypnoBeep". Laut den Machern ähneln die Symptome der Handysucht der einer Drogensucht. Bereits das Hören eines Klingeltons kann bei Betroffenen für erhöhten Adrenalinausstoß sorgen. Ich muss an den Mini-Herzinfarkt denken, den ich jedes Mal bekomme, wenn ich im Fernsehen ein Vibrations-Geräusch höre.

"HypnoBeep" soll mithilfe eines Belohnungssystems dabei helfen, smartphonefreie Phasen im Tagesablauf einzurichten. Genau solche Ruhephasen empfiehlt auch die Arbeitspsychologin Veronika Jakl: sich selbst Freiräume schaffen, Benachrichtigungen abstellen, Apps entfernen, die man nicht unbedingt braucht, sich selbst den Luxus gönnen, nicht immer sofort zu antworten. Die eigenen Leitungen kappen.

Ich selbst lösche hin und wieder Apps. Allerdings installiere ich sie daraufhin direkt wieder aufs Neue, weil ich sonst leider keine Möglichkeit kenne, um den Speicher-Müllhaufen namens "Dokumente und Daten" loszuwerden. Erst habe ich deshalb die Facebook-App gelöscht—und nicht wieder neu installiert. Vom Messenger hab ich mich sowieso schon vor Monaten verabschiedet. In dringenden Fällen kann ich meinen Account ja auch am Handy im Browser abrufen. Es fühlt sich gut an.

"Eine Krankheitsdefinition im klinischen Sinne gibt es zur Smartphone-Sucht im Speziellen nicht", so Veronika Jakl. Ernst nehmen sollte man das Thema trotzdem—spätestens dann, wenn man sich im Alltag irgendwie beeinträchtigt fühlt. Wenn man beim Kaffeetrinken mit Freunden permanent überprüft, ob eine neue Benachrichtigung da ist. Wenn man schon im Kino nervös wird, weil man zwei Stunden WhatsApp verpasst hat. Wenn man nicht einschlafen kann, und doch noch mal aufs Handy schaut.

Neben den Apps gibt es auch in Österreich immer mehr Einrichtungen und Hotels, die "Digital Detox" anbieten—quasi ein Wellness-Urlaub, bei dem man sämtliche elektronischen Gadgets an der Rezeption abgibt. All das könnte man insgesamt auch leichtfertig im Ordner "Modeerscheinung" ablegen—wenn aber tatsächlich öffentlicher Bedarf nach Entgiftung besteht, kann man eine ausgewachsene Smartphone-Sucht eben nicht mehr ganz so gut kleinreden.

Dabei ist es schon über zehn Jahre her—noch vor dem ersten iPhone—, als zum ersten Mal eine aufkommende, ernstzunehmende Handy-Abhängigkeit ausgerufen wurde: MAIDS, kurz für "Mobile And Internet Dependency Syndrome". Rein phonetisch hört sich das schon eher nach einer waschechten, eiterbläsrigen Todes-Krankheit an, mit der man sich lieber nicht infizieren möchte (allein daran merkt man, dass die Sache aus einer anderen Zeit stammt).

Über die Jahre wurde MAIDS dann zur weitaus weniger bedrohlich klingenden Nomophobie (No-Mobile-Phone-Phobia), von der laut Studien immer mehr Menschen betroffen sind, aber vor Spinnen haben immerhin auch sehr viele Leute Angst, und an bloßer Angst kann man ja auch nicht sterben. Zumindest in den meisten Fällen.

 

Unsere Redaktion hat sich erst kürzlich mittels Facebook Live-Stream im Smartphone-Entzug versucht. Klingt zunächst mal nicht nach dem spannendsten Video aller Zeiten, aber dass ein einfacher Phone Stack mittlerweile als Selbstversuch durchgeht, ist eigentlich nur ein weiterer Indikator für den Ernst der Lage. Was bleibt, sind FOMO-Narben und insgesamt ungefähr 200.000 Notifications auf den Handys meiner Kollegen.

Je inflationärer wir den Suchtbegriff gebrauchen, desto gefährlicher wird er. Millennials, die von Klapphandys über Real Tones bis hin zum ersten Megapixel alles mitgemacht haben, haben heute eine Art Abhängigkeit entwickelt. Die Frage, die wir auch im Live-Video stellen, ist nur: Abhängigkeit wovon genau? Denn das Smartphone ist nicht nur ein Gerät, es ist der Ort, an dem ein Großteil der Dinge zusammenläuft, die uns als Menschen ausmacht—zwischenmenschliche Kommunikation, Informationsaustausch, Liebesbekundungen.

 

Langsam aber sicher machen sich auch körperliche Schäden bemerkbar. Wir krümmen unsere Rücken, entzünden unsere Sehnen und erblinden. Im Bett scrollen wir oft einäugig durch Facebook, während das andere Auge im Kopfkissen zerknautscht wird. Eine Seite sieht, die andere nicht, das ergibt eine Asymmetrie, die unser Körper erst mal ausgleichen muss—temporäre Blindheit kann die Folge sein.

 

Laut Andreas Reiter vom Institut für Suchtprävention kann man Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen zwar schwer mit vermeintlicher Smartphone-Sucht gleichsetzen, nichtsdestotrotz gäbe es Ähnlichkeiten. Außerdem seien Mädchen anfälliger—so hätte es in Behandlungseinrichtungen in letzter Zeit einzelne Fälle von abhängigen Smartphone-Userinnen gegeben. Allerdings erwähnt auch Reiter, dass das Krankheitsbild "Smartphone-Sucht" bis jetzt nicht offiziell diagnostiziert werden kann.

 

Laut Statistiken gibt es über eine Milliarde Raucher in Österreich. Anders—treffender—ausgedrückt: Über eine Milliarde Nikotinsüchtige. Suchtkranke. Wie wir in Zukunft mit Smartphones umgehen möchten, bleibt uns überlassen.

 

Artikel auf VICE von Franz Lichtenegger

Veronika Jakl

Arbeitspsychologin, Autorin ("Aktiv führen") und Gastgeberin bei den "Pionieren der Prävention".

Begleitet seit 12 Jahren Organisationen dabei motivierende Arbeitsbedingungen zu schaffen und psychische Belastungen zu reduzieren. 
Unterstützt PräventionsexpertInnen, die wirklich etwas bewegen wollen.

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