Mythos der Eigenverantwortung - Hilfreich oder gefährlich?
Andere Menschen & deren Verhalten können wir nicht kontrollieren, sondern "nur" positiv beeinflussen.
In der Podcast-Episode 143 sprechen wir darüber, ob der Gedanke an die Eigenverantwortung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hilfreich ist in unserer Präventionsarbeit oder vielleicht doch gefährlich.
Wir reden also heute darüber, wer für Prävention zuständig ist und wie weit die Eigenverantwortung der Beschäftigten geht. Damit Sie für sich klarere Ziele haben und bessere Präventionsarbeit leisten können.
Ich habe letztens auf LinkedIn einen Beitrag gelesen, indem es darum ging, wer für Arbeitssicherheit zuständig ist:
Da kamen viele Kommentare, wie z.B.:
- Es ist wie mit allem im Leben: Alles beginnt bei der Person selbst.
- Manche Firmen haben einen Spiegel hängen mit der Aufschrift: "Heute für deinen Arbeitsschutz zuständig:" ….. erzeugt zumindest bei Einigen ein Nachdenken. ?
- Es beginnt mit einem grundlegenden Bewusstsein für das Thema Arbeitsschutz und dem persönlichen "commitment" hierzu. Und das von jedem Einzelnen.
Ich kenne diese Ansichten auch aus meiner Arbeit im Bereich der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen.
Kleines Beispiel:
Ich habe letztens ein Team im Eventmanagement begleitet. Diese organisieren unter anderem Märkte mit vielen unterschiedlichen Aussteller:innen, z.B. mit Kunsthandwerk, Essens-Ständen, …
Eine Mitarbeiterin hat mir erzählt, dass sie sich immer wieder streitet mit Aussteller:innen, die sie nicht nimmt für einen bestimmten Markt. Diese beschweren sich dann, warum sie dieses Jahr nicht dabei sein dürfen und die Mitarbeiterin erzählte auch, dass ihre Chefin dann sehr kritisch bei ihr nachfragt, wie denn der Auswahlprozess gelaufen ist. Die Mitarbeiterin hat den Eindruck, dass man ihr nicht vertraut und diese ganze Situation stresst sie sehr.
Als ich das der Chefin gesagt habe, hat diese gemeint, dass die Mitarbeiterin selbst schuld sei, weil sie sich einfach auch gerne streitet mit Aussteller:innen und hier eine unangenehme Art an den Tag legt. Die Chefin hat also gesagt, die Mitarbeiterin ist selbst schuld an ihrem eigenen Stress.
Eine Aussage, die also viel herumschwirrt und der viele in der Arbeitssicherheit zustimmen: "Arbeitssicherheit ist Verantwortung von jeder einzelnen Person." Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben eine Eigenverantwortung!
Ich halte das für falsch. Ja, es mag bequem sein, aber es ist nicht hilfreich.
Lassen Sie mich das erklären:
Meine Befürchtung
Wenn Führungskräfte das sagen, schieben sie einfach die Verantwortung ab und wollen sich dann nicht mehr um Maßnahmen oder ähnliches kümmern.
Meine Erfahrung: Auch viele Leute in der Arbeitssicherheit sagen das, wenn sie nicht mehr weiterwissen.
3 Ebenen der Beeinflussung nach Steven Covey
Es gibt 3 Bereiche, wie man beeinflussen kann. Stellen Sie sich das visuell wie 3 konzentrische Kreise vor.
Von groß außen bis immer kleiner werdend innen sind diese 3 Ebenen:
- Dinge, die wir weder beeinflussen noch kontrollieren können = größter Kreis
- Dinge, die wir beeinflussen, aber nicht kontrollieren können
- Dinge, die wir beeinflussen und kontrollieren können = kleinster Kreis
Und was können wir direkt kontrollieren: Uns selbst!
Andere Menschen & deren Verhalten können wir nicht kontrollieren, sondern "nur" positiv beeinflussen. Mithilfe von Kommunikation, unserem Verhalten usw.
Dann haben wir außen herum noch den Kreis, den wir nicht mal beeinflussen können: Gesetzgebung, das Verhalten von Dritten mit denen wir nicht arbeiten, Vorgaben von den Auftraggebern unserer Kund:innen, ...
Jetzt könnte man ja sagen: Eben, wir können Verhalten von anderen nicht kontrollieren, also sind sie selbstverantwortlich!
Aber so einfach find ich das eben nicht:
OK, wir sind nicht für das Ergebnis zuständig oder dafür, die Maßnahmen konkret umzusetzen.
Aber wir sind für Prozesse verantwortlich und auch für die Kommunikation, die Bedürfnisorientierung bei unserer Vorgehensweise und dass wir wirklich ALLES geben, um Leute von Arbeitssicherheit und Prävention zu überzeugen. Für unsere ganze Beratung sind wir verantwortlich und dafür, dass wir unser Bestes dabei geben. Wir sind auch Teil des Systems und prägen die Sicherheitskultur mit. Vor allem als Externe nicht extrem, nicht täglich, aber dennoch.
Auch bei uns gilt: Das, was wir akzeptieren, setzt den Standard nach unten.
Wenn wir Aussagen oder Ausreden von Leuten akzeptieren, weil wir es abtun als "Die sind erwachsen und selbst verantwortlich.", dann zeigt das auch unsere Einstellung und macht etwas mit den anderen Beschäftigten.
Stellen Sie sich mal vor, Sie kontrollieren die Arbeiten auf einer Baustelle. Ein Bauarbeiter arbeitet gerade am Dach, aber ohne Absturzsicherung. Sie bitten die Person kurz runterzukommen, um mit ihr zu reden. Und Sie fragen nach, warum gerade keine Absturzsicherung verwendet wurde. Und die Person antworten: "Ich war eigentlich eh schon gestern fertig, aber ich wollte jetzt nur noch mal kurz etwas kontrollieren und ich bin ja noch nie wo runter gefallen. Ich mach das ja auch schon 30 Jahre lang."
Sie können sich wahrscheinlich gut in so eine Situation reinversetzen und kennen solche Aussagen.
"Ja, aber" ist für mich die wichtigste Unterbrechung.
Darüber habe ich schon in einigen Podcast-Episode gesprochen.
Wenn wir mit jemanden reden, z.B. über persönliche Schutzausrüstung. Und wir sagen der Person, dass sie aber wirklich einen Schutzhelm tragen sollte und die Person antwortet dann: "Ja, aber der ist zu warm und zu unbequem." Dann sollten wir unbedingt zuhören, denn das ist wirklich die wichtigste Unterbrechung.
Wir sollten nicht einfach nur der Meinung sein: "Okay ich hab's der Person ja gesagt, dass sie ihn tragen soll. Es ist deren Eigenverantwortung, wenn sie oder er das nicht tut." Sondern wir sollten unser Bestes geben, um der Personen unseren Standpunkt, unsere Erfahrungen, unser Wissen klar zu machen.
Das bedeutet nicht, dass wir mehr nerven sollten, sondern wir müssen hier besonders bedürfnisorientiert vorgehen und unser ganzes Handwerkszeug von motivierender Gesprächsführung auspacken. Es geht darum, die psychologischen Hintergründe von Aussagen zu erkennen und passend darauf zu reagieren.
Wenn eine Firma also betreut wird in betrieblicher Prävention, dann kann man die Verantwortung nicht so einfach abschieben auf die Mitarbeiter:innen ("selbst schuld"). Denn es gibt mehr Stakeholder, denen das wichtig ist. Und wir sind hier auch Stakeholder!
Sie sehen: Ich bin ambivalent.
Einerseits: Wir können Leute ja nicht zwingen oder deren Verhalten kontrollieren im Sinne von verändern. Andererseits: Wir müssen alles dafür tun, dass sich Leute sicher und gesund verhalten. Und da kann der Gedanke "Sie sind erwachsen und für sich selbst verantwortlich" stören!
Es ist wichtig, dass wir uns bewusst machen, dass Arbeitssicherheit eine gemeinsame Verantwortung ist. Indem wir uns um unsere eigene Sicherheit kümmern und andere positiv beeinflussen, können wir dazu beitragen, dass Arbeitsplätze sicherer und gesünder werden.
Also arbeiten Sie daran, die Bedeutung von Arbeitssicherheit zu vermitteln, sich für gesunde Arbeitsplätze einzusetzen, mit "Ja, aber"-Antworten umzugehen und mit Führungskräften, denen das Thema scheinbar egal ist.
Wenn Sie sich zu dem Thema mit anderen austauschen wollen, hier lernen wollen, besser zu kommunizieren und bedürfnisorientierter zu beraten, dann empfehle ich Ihnen den Intensivkurs "Bedürfnisorientierte Prävention", der von Januar bis Juni 2024 online stattfindet. Alle Infos dazu finden Sie HIER.
Mein Fazit ist also:
Fokussieren Sie sich nicht auf die Verantwortung von anderen sondern auf ihre eigene Verantwortung und alles, was Sie selbst kontrollieren und beeinflussen können!
Beobachtungsaufgabe der Woche für Sie:
Beobachten Sie sich einmal selbst, wann Sie sich denn denken, dass dieser Mitarbeiter oder diese Mitarbeiterin selbst schuld ist an einem Unfall.
Weitere Empfehlung:
Episode 104: "Wer ist WIRKLICH schuld, wenn MA ungesund oder unsicher arbeiten?"
Veronika Jakl
Arbeitspsychologin, Autorin ("Aktiv führen") und Gastgeberin bei den "Pionieren der Prävention".
Begleitet seit 12 Jahren Organisationen dabei motivierende Arbeitsbedingungen zu schaffen und psychische Belastungen zu reduzieren.
Unterstützt PräventionsexpertInnen, die wirklich etwas bewegen wollen.
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