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DER STANDARD: Persönlichkeitstests: Firmen wollen immer tiefer in die Seele von Bewerbenden blicken

Veronika Jakl im Interview in der Zeitung "Standard"

Artikel von Melanie Raidl im "Standard", erschienen am 21. Juli 2023

Persönlichkeitstests: Firmen wollen immer tiefer in die Seele von Bewerbenden blicken

Tests, die den Charakter beurteilen, gehören zur neuen Arbeitswelt. Ein Seelenstriptease im Job kann zwar verunsichern, aber auch clever genutzt werden

Es sind 40 Minuten und 177 Fragestellungen auf dem Computerbildschirm, die von der Offenbarung trennen. Das Ziel: endlich die persönlichen Stärken und Schwächen kennen. Persönlichkeitstests wie dieser, der Clifton Strengthsfinder, sollen funktionierende Teams und bessere Firmenergebnisse ermöglichen. Führungskräfte sollen anhand der Ergebnisse der Mitarbeitenden sehen, wer was genau braucht, um gerne zu arbeiten. In einer sich wandelnden Arbeitswelt, in der kaum noch jemand Lust auf starre Regeln hat, ein Gewinn. So die Hoffnung von Expertinnen und Arbeitgebern.

Der Test, den DER STANDARD für diesen Artikel ausprobiert hat, wurde vom amerikanischen Psychologen Don Clifton kreiert, welcher erforschte, wie Menschen ihr volles Potenzial ausschöpfen können. Jede Fragestellung hat eine Skala mit zwei Aussagen, Teilnehmende sollen anklicken, welche sie am ehesten beschreibt und wie stark. 20 Sekunden Zeit gibt es für jeden Punkt. Am Ende erhält der Nutzer oder die Nutzerin ein Ergebnis mit Eigenschaften, die zu ihm oder ihr passen.

Welche Antwort zu welchem Ergebnis führt, ist für Laien so leicht nicht zu erraten. Bei einer Frage kann entschieden werden zwischen "Ich verlasse mich beim Finden der richtigen Angebote auf Fachleute" oder "Antworten und Aspekte erschließen sich mir ganz natürlich". Lieber nach Gefühl oder nach dem Verstand handeln? Nur eines der beiden kann gewählt werden. Am Ende wartet ein ausführlicher Report, welche der 34 möglichen Ausprägungen am meisten zutreffen. Ist man auf Höchstleistungen aus? Oder hat man besonders viel Einfühlungsvermögen? Zählt für einen vor allem Wettbewerbsfähigkeit? Die Seele ist nun geöffnet.

Persönlichkeitstests sind ein Mittel zum Zweck, welches viele Firmen schon lange im Recruiting und zum Teambuilding nutzen. Vor allem große Beratungsfirmen, Agenturen oder Tech-Unternehmen wollen lieber einen Blick in die Persönlichkeitsstruktur ihrer Bewerbenden werfen, bevor sie später draufkommen, dass die Zusammenarbeit nicht passt. Der Clifton Strengthsfinder ist nur einer von vielen Tests, die Unternehmen weltweit nutzen.

Hype um die 16 Persönlichkeiten

In sozialen Medien wie Tiktok hat sich jedoch ein anderer Test rasant verbreitet. Der sogenannte 16-Personalities-Test, bekannt als MBTI (Myers-Briggs-Test), steckt Personen in eine von 16 Charakterschubladen, jede hat einen Namen wie "Architekt" oder "Diplomat". Mittlerweile ist er kostenlos im Internet zu finden, in den USA ist er häufig noch ein gängiger Test im Recruiting. Psychologinnen und Psychologen vermuten, dass er zum Hype wurde, weil sich viele Menschen gut mit den Ergebnissen identifizieren können. Auf Tiktok wurde der Hashtag #16Personalities bereits mehr als zwei Milliarden Mal verwendet. Nutzerinnen und Nutzer zeigen in ihren Videos, warum sie sich mit ihrem Persönlichkeitstyp identifizieren, wollen erklären, warum bestimmte Typen zusammenpassen oder warum eine Ausprägung freundlicher ist als eine andere – ähnlich wie mit Sternzeichen und Horoskopen.

Der MBTI-Test wurde mittlerweile als unwissenschaftlich erklärt, er ist in Studien durchgefallen. Immer wieder sollen sich Ergebnisse von Mal zu Mal stark unterschieden haben, wenn der Test wiederholt wurde. "In der Psychologie muss ein Test gewisse Gütekriterien aufweisen", sagt die Arbeitspsychologin Veronika Jakl aus Wien. "Es wird geschaut, ob das Ergebnis stabil bleibt." In Summe seien Tests, die in Schubladen stecken würden, nicht fundiert. Wissenschaftliche Persönlichkeitstests würden eher ein Spektrum an Fähigkeiten liefern. In der neuen Arbeitswelt werde es wichtiger, Mitarbeitende richtig zu verstehen, einordnen zu können und motivieren zu können. Vor allem deshalb müssten Tests auch Sinn ergeben.

Das internationale Beratungsunternehmen Accenture verwendet Persönlichkeitstests in Wien intern schon lange. Mariam Amir-Ahmadi hat dem STANDARD genauer erklärt, wie sie diese nutzen. Amir-Ahmadi ist Principal Director im Unternehmen, begleitet hochrangige Führungskräfte und coacht zum Thema agiles Arbeiten. "Wir sind davon überzeugt, dass sich Teams durch die Testung näher kommen und gleichwertiger werden", erklärt sie. Der Clifton Strengthsfinder könne bei ihnen zu mehr Diversität beitragen. Wenn das Bild vorherrsche, niemand sei perfekt und habe Stärken sowie Schwächen, seien die Dynamiken besser. "Wir suchen eben nicht nur klassische Beraterpersönlichkeiten." Intern gebe es sogar Trainings mit Coaches, die zeigen können, wie man die Ergebnisse für sich nutzen könne. Eine Möglichkeit, die meist nur große Unternehmen mit viel Budget für Teambuilding haben.

Talentekategorien als Wegweiser

Auch bei Personalberatungen sind Persönlichkeitstests seit langem Gang und Gäbe. Die Beratung EO Executives Austria etwa wendet auf der Suche nach Führungskräften für Unternehmen den Insights MDI Test an, ebenfalls von einem Psychologen entwickelt. Ähnlich wie auch der Clifton Strengthsfinder unterteilt er in Farben mit verschiedenen Talentekategorien. "Der Test zeigt auf, wie wir uns in verschiedenen Arbeitssituationen verhalten, und bewertet nicht", erklärt Director EO Austria, Herbert Fritsch-Richter. "Es gibt hier kein gut oder schlecht, es wird vor allem die Wertestruktur beleuchtet."

Aber bleiben Recruiterinnen und Recruiter wirklich immer neutral? Wie viele und welche Unternehmen in Österreich genau Persönlichkeitstests anwenden, erschließt sich nicht durch Daten. Allerdings zeigt eine stichprobenartige Recherche in der Arbeitgeberbewertungsplattform Kununu: Bewerberinnen und Bewerber sprechen in der Bewertung einiger großer Unternehmen von Persönlichkeitstests im Recruiting. Hauptsächlich – auf Bewertungsplattformen üblich – stehen die Erwähnungen im negativen Kontext, Bewerbende berichten vom "Durchfallen" beim Persönlichkeitstest oder davon, die Ergebnisse selbst gar nicht gesehen zu haben.

Versicherungen wie die Wiener Städtische oder die Grazer Wechselseitige (Grawe) sollen laut Kununu-Nutzenden Bewerbungsverfahren mit Intelligenz- wie auch Persönlichkeitstests anwenden. Die Grawe hat in einer Antwort erklärt, es ginge dabei um eine möglichst objektive Auswahl. "Wir sind davon überzeugt, dass ein Schnellverfahren weder in unserem noch im Interesse der Bewerbenden ist", schreibt ein Vertreter der Versicherung. Auch Firmen wie die Raiffeisen-Bank, Volkswagen, Prochema, Coloplast, EVVA und ADF International werden erwähnt. Die Tests waren manchen zu lang, manchen zu oberflächlich oder veraltet, andere fanden sie hilfreich.

Gerade im Recruiting, sagt Arbeitspsychologin Jakl, müssten Arbeitgebende überlegen: Welche Art von Team brauche ich? Brauche ich ähnliche Charaktere oder mehr Diversität? Schon vorab zu wissen, wen man sucht, erspare Unternehmen spätere Konflikte. Im Recruiting sei es wichtig, nicht nur einen Persönlichkeitstest einzusetzen, sondern die Bewerbenden auch probearbeiten zu lassen. Jemanden wegen der Ergebnisse im Persönlichkeitstest abzulehnen, ohne zu prüfen, wie die Person arbeitet, sei zweifelhaft, komme aber durchaus vor.

Soll jeder die Ergebnisse sehen?

Ein wichtiges Thema ist auch der Datenschutz, sagt Arbeitspsychologin Jakl. Man müsse transparent machen, wer die Ergebnisse sieht und sehen darf. "Dass zukünftige Kolleginnen und Kollegen die Testergebnisse direkt sehen, macht keinen Sinn", sagt Jakl. Hilfreich seien sie aber für Führungskräfte, um Konflikte in Teams zu verstehen und Aufgaben sinnvoller zu verteilen. "Wenn man die Handlungsmuster der anderen versteht, kann man gelassener zusammenarbeiten."

Für eine Einzelperson kann so ein Test, richtig angewendet, auch Vorteile bringen. Er könnte Hinweise liefern, warum jemand in diversen Jobs unglücklich ist, öfters wechselt oder gelangweilt ist. Braucht eine Person etwa immer wieder neue Reize und Herausforderungen, ist sie mit Dienst nach Vorschrift wahrscheinlich unzufrieden. Man kann auch im bestehenden Job lernen, die Aufgaben zu priorisieren, die einem liegen und einen motivieren.

Natürlich gebe es Teams, die sich heiß lieben würden, sagt Jakl. "Es kommen aber oft auch externe Einflüsse dazu, die auf das Verhalten von Teammitgliedern wirken." Auch Leistungsfähigkeit und die erlernte Arbeitsmoral sind bedeutend für eine gute Zusammenarbeit. Selbst wenn sie sich einmal perfekt verstehen, können private Geschehnisse den Stresslevel und das Verhalten direkt beeinflussen.

Der Selbstversuch mit dem Clifton Strengthsfinder für diese Recherche hat gezeigt, wie sehr einen ein Persönlichkeitstest beeinflussen kann, auch wenn man dies erst nicht glaubt. Die fünf Begriffe, die einen am besten beschreiben sollen, bleiben im Gedächtnis, und dazu erhält man noch einen langen Bericht, der einem sein Inneres erklärt. Es sind vielleicht keine Namen, die man bekommt, wie beim 16-Personalities-Test. Trotzdem fängt es im Gehirn an zu arbeiten: Warum genau kommt dieses Ergebnis heraus? Was macht einen zu dieser Person, mit diesen Talenten? Sicher war jedoch im Hinblick auf das Ergebnis des Testes: Es bleibt vertraulich und wird nicht geteilt oder in diesem Text besprochen. Denn ein bisschen gleicht das Ganze einem Seelenstriptease. Bestimmt ist er nicht für alle arbeitenden Menschen etwas. Eher ist es, wie Psychologin Jakl sagt: Wenn Arbeitgebende wissen, was sie mit den Tests erreichen wollen, die Mitarbeitenden mitmachen, kann ein Persönlichkeitstest so manches Team vor Krisen retten. 

Artikel von Melanie Raidl im "Standard", erschienen am 21.7.2023

Veronika Jakl

Arbeitspsychologin, Autorin ("Aktiv führen") und Gastgeberin bei den "Pionieren der Prävention".

Begleitet seit 12 Jahren Organisationen dabei motivierende Arbeitsbedingungen zu schaffen und psychische Belastungen zu reduzieren. 
Unterstützt PräventionsexpertInnen, die wirklich etwas bewegen wollen.

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