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HRweb.at : Psychische Belastungen am Arbeitsplatz | Praktische Einblicke von A(rbeitsgestaltung) bis Z(ielerreichung)

Wie kann die Evaluierung psychischer Belastungen in der Realität gelingen? Lesen Sie in diesem Artikel ein reales Praxisbeispiel aus einem Ärztezentrum wie man psychische Belastungen nachhaltig reduzieren kann.

 

Gibt es Stressfaktoren? Was genau ist die psychische Belastung?

Die Evaluierung arbeitsbedingter psychischer Belastungen ist gesetzliche Vorschrift und im ArbeitnehmerInnenschutzgesetz vorgeschrieben. Es müssen alle Arbeitsplätze auf ihre potentiellen Stressfaktoren hin untersucht werden. Wenn ein Stressfaktor erkannt wurde, der sich mittel- oder langfristig negativ auf die Gesundheit auswirken kann, müssen entsprechende Maßnahmen gesetzt werden.

Es geht also nicht um die Messung des Stresspegels, des Gesundheitszustands von Einzelpersonen oder um Arbeitszufriedenheit. Es geht um Einflussfaktoren, die für alle Personen an diesem Arbeitsplatz gleich sind oder es wären.

 

Beispiel – Lärm im Ärztezentrum

In unserem heutigen Beispiel geht es um ein Beobachtungsinterview, welches ich als Arbeitspsychologin durchgeführt habe.

Fr. Müller arbeitet als Assistentin in einem Ärztezentrum für Kinder. Sie sitzt am Schalter, der gleich neben dem Wartebereich ist. Susanne Müller ist dort für die Anmeldung der Patienten zuständig, nimmt die Telefonate für Terminvereinbarungen entgegen und kümmert sich um die Abrechnungen

Sie ist genervt vom Lärm.

„Ich kann mich nicht konzentrieren. Die Kinder trommeln am Xylophon. Die Eltern telefonieren lautstark obwohl wir eh so ein Schild haben, dass man das hier nicht darf. Und nebenbei soll ich die ganzen Abrechnungen schreiben. Am Vormittag geht’s ja noch. Aber so ab 14:00 Uhr hab ich oft keine Nerven mehr dafür.“

Aber nicht nur die Kinder und deren Eltern verursachen Lärm im Wartebereich. Auch die Ärzte und Therapeuten sorgen für einen gewissen Lärmpegel.

„Der große Drucker steht ja direkt hinter mir. Wenn also jemand was ausdruckt im Stockwerk kommt er nachher hierher um es abzuholen. Oft tratschen dann die Ärzte oder die Therapeuten, wenn sie sich beim Drucker treffen. Ich sag ihnen dann eh, dass ich grad viel zu tun hab. Dann reden sie zwar mich nicht mehr an, aber miteinander natürlich schon.“

 

Was macht Lärm aus psychologischer Sicht?

Aber Sie kennen das vielleicht selbst: auch ganz leise Geräusche, wie z.B. ein brummender Beamer oder eine laut tippende Kollegin, können ganz schön stressen, weil man es nicht selbst in der Hand hat.

Bei Lärm aus psychologischer Sicht geht es um die subjektive Wahrnehmung, unabhängig der vorgegebenen gesetzlichen Dezibel-Grenzen.

Durch unangenehme Geräusche kann es zu erhöhtem Schwitzen, Herzklopfen oder Adrenalinausstoß kommen. Es kann auch zu Schwierigkeiten bei der Aufmerksamkeit und der Gedächtnisleistung kommen. Zuhören wird auch mühsamer, weil man viel Energie benötigt, um aus den Umgebungsgeräuschen das Relevante zu filtern.

Eine Studie hat gezeigt, dass die Qualität der Arbeitsleistung unter Lärm leidet: Text- oder Rechenaufgaben konnten unter Lärm weniger genau und schnell bearbeitet werden (Banbury & Berry, 1998).

 

Feedback an die Führungskraft und Reaktion

Der nächste Schritt in der Evaluierung birgt oft Überraschungen: Die Analyseergebnisse müssen mit den Verantwortlichen besprochen werden um die nächsten Schritte zu planen. Der Gesprächsverlauf hängt oft an der Reflexions- und Kritikfähigkeit der Führungskräfte.

  • Wie wird mit negativer Kritik umgegangen? Wie gut hält die Führungskraft negative Emotionen aus?
  • Können unterschiedliche Sichtweisen akzeptiert werden?
  • Für wie glaubwürdig hält sie die Ergebnisse und die Aussagen der Mitarbeiter?
  • Lässt sie sich helfen oder will die Führungskraft den Status quo um jeden Preis beibehalten?

 

Beispiel – Lärm im Ärztezentrum

Beim Rückmeldegespräch ist die Geschäftsführerin des Ärztezentrums Fr. Margot Poller anwesend. Ich als Arbeitspsychologin berichte die Ergebnisse.

Fr. Müller wollte selbst nicht bei dem Gespräch dabei sein.

„Das ist nicht notwendig. Es sind keine kritischen Sachen dabei und ich muss die Monatsabrechnung fertig machen.“

Fr. Poller ist überrascht von dem Ergebnis. Ihre Mitarbeiterin hat das Problem ihr gegenüber noch nie erwähnt und ihr selbst ist es im Arbeitsalltag nie aufgefallen.

„Das ist ein Problem? Warum hat die Susanne noch nie was gesagt? Ich hab nicht den Eindruck gehabt, dass es sie nervt, wenn die Ärzte beim Drucker ein bisschen plaudern.“

Die Geschäftsführerin ist ein wenig verärgert, dass diese psychische Belastung vorher noch nie intern ein Thema war.

„Dafür brauchen wir eine externe Evaluierung? Das hätte sie einfach nur mal sagen müssen. Dann hätte ich mich darum gekümmert. Wir sind doch alle erwachsen. Ich will nicht, dass Sie glauben, dass es mir egal wäre, wenn jemand ein Problem hat. Aber ich hab es nicht gewusst!“

Nach meiner Erklärung, welche Auswirkungen die akustische Beeinträchtigung auf die Leistung und die Gefühle von Susanne Müller haben, zeigt sich die Geschäftsführerin Poller einsichtig. Sie gibt an, dass sie sich selbst auch schlecht konzentrieren kann, wenn andere Leute nebenbei reden. Auch sie muss dann komplexe Berechnungen oder E-Mails mehrfach machen, weil sie sich unterbrochen fühlt.

Diese persönliche Erfahrung macht es für mich als Psychologin leichter auch den Handlungsbedarf klarzumachen.

 

Was machen wir dagegen?

Psychologische Arbeitsgestaltung hat das Ziel Arbeit „menschengerecht“ zu machen. Ein berühmtes Modell kommt in diesem Kontext von Hacker und Richter (1980). Er fordert, dass Arbeit folgende Kriterien erfüllt:

  • Ausführbar (körperlichen und psychischen Anforderungen übersteigen die Kräfte des Mitarbeiters nicht)
  • Schädigungslos (keine kurzfristigen Gesundheitsschäden)
  • Beeinträchtigungsfrei (keine mittel- und langfristigen Gesundheitsprobleme, keine Unter-/Überforderung)
  • Persönlichkeitsförderlich (z.B. Entscheidungsspielraum haben, Neues lernen können, zwischenmenschliche Kontakte haben)

Bei der gesetzlichen Evaluierung psychischer Belastungen liefert §7 ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (Link: ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10008910 ) den Rahmen für die Maßnahmenplanung. Die Grundsätze lauten unter anderen:

  • Maßnahmen müssen an der Quelle des Problems ansetzen. Sie dürfen nicht nur ein „kosmetische Lösung“ sein.
  • Maßnahmen gegen Stressfaktoren sollten für möglichst viele Personen hilfreich (d.h. „kollektiv wirksam“ sein).

 

Beispiel – Lärm im Ärztezentrum

Gemeinsam mit der Geschäftsführerin gehe ich zum Schalter- und Sekretariatsbereich. Wir wollen uns die Sache live ansehen um passende Lösungen zu überlegen.

Fr. Müller freut sich, dass das Problem angegangen wird und beschreibt nochmals den Stressfaktor. Passenderweise sind gerade zwei Familien anwesend. Die Eltern reden zwar hörbar leiser nachdem wir nun zu dritt beim Schalter stehen und uns die Situation ansehen. Aber die Kinder spielen gedankenverloren mit den herumstehenden Spielsachen wie dem Xylophon und Holzblauklötzen.

Wir finden zuerst einen neuen Platz für den Kopierer. Er soll in eine Ecke im Vorraum übersiedelt werden. Dort steht jetzt eine Grünpflanze, welche geschnitten werden soll und im Wartebereich einen neuen Platz finden wird.

Die Geschäftsführerin verspricht auch beim nächsten Jour-fixe mit den Ärzten und den Therapeuten das Thema anzusprechen. Sie sollen darauf sensibilisiert werden wo sie sich austauschen und wie störend diese Hintergrundgespräche für andere sein können.

Bezüglich des lärmenden Spielzeugs hat Fr. Paller eine radikal-einfache Lösung: Es wird sofort ausgetauscht. Aus einer Sammelkiste in einem Behandlungszimmer werden zwei Stoffbälle und eine Holzeisenbahn geholt. Das Xylophon wird dafür entfernt. Fr. Müller ist dabei ganz überrascht.

„Ich dachte, dass das Spielzeug pädagogisch wertvoll ist und bewusst ausgesucht wurde. Daher hätte ich das nicht einfach weggeräumt.“

Die zwei Familien sind mittlerweile nicht mehr im Wartezimmer und wir unterhalten uns über Personen, die die Bitte ignorieren, nicht zu telefonieren.

Es stellt sich heraus, dass Fr. Müller nicht genau weiß, wie sie dann damit umgehen soll. Sie will keine Privatpatienten verärgern, aber eigentlich auch, dass die Regeln für alle gleich gelten. Das Gespräch dreht sich um unterschiedliche Dinge wie Telefonieren im Wartebereich, kurzfristige Terminabsagen und unhöfliche Eltern, die auf bestimmte Therapien beharren.

Wir einigen uns darauf, dass in der nächsten Sitzung des Administrationsteams gesammelt wird, welche unangenehmen Situationen schon erlebt wurden und dass gemeinsam mit der Geschäftsführerin jeweils eine Standard-Vorgehensweise erarbeitet wird.

 

Hat die Maßnahme auch geholfen?

Das ArbeitnehmerInnnschutzgesetz verlangt weiter, dass überprüft wird, ob die getroffenen Maßnahmen auch wirken.

Aber was bedeutet in diesem Zusammenhang Wirksamkeit? Im HRweb-Artikel „Psych. Belastungen am Arbeitsplatz | Wann ist die Pflicht erfüllt?“ können Sie das Stufenmodell von Kirkpatrick und Philips nachlesen. So kann Wirksamkeit auf den Ebenen von Reaktion – Lernen – Verhalten – Ergebnis – Return on Investment gemessen werden.

 

Beispiel – Lärm im Ärztezentrum

Beim Nachfragen einige Wochen später erfahre ich, dass im Team jeweils eine fixe Vorgehensweise für die angesprochenen Themen vereinbart wurde. So müssen sich nicht Fr. Müller oder die Kollegen selbst überlegen, was sie den Patienten sagen dürfen, sondern handeln akkordiert und ähnlich.

Fr. Müller hat den Eindruck, dass das neue Spielzeug im Wartezimmer wirklich die Lautstärke reduziert hat. Sie gibt an, jetzt weniger gestresst zu sein beim Erstellen der Rechnungen. Fr. Müller glaubt auch weniger oft Dinge kontrollieren zu müssen und weniger Fehler zu machen.

Eine akustische Lärmmessung vor der Veränderung wurde nicht durchgeführt, daher gibt es hier keinen objektiven Vergleich.

Geschäftsführerin Fr. Paller erzählt, dass sie mit den Ärzten und Therapeuten das Thema „Tratschen während andere Leute arbeiten“ besprochen hat und um Rücksichtnahme gebeten hat.

Fr. Müller meint, dass das Verrücken des Kopierers hier viel gebracht hat und seither eh fast niemand mehr hinter ihr ein Gespräch beginnt. Und das Tratschen im Vorraum beim Kopierer würde sie nicht mitbekommen.

 

Fazit

Ein vollständiger Prozess von Erfassung des Problems bis hin zu wirksamen Maßnahmen bedarf Geduld und manchmal einen langen Atem. Aber es zahlt sich aus, wenn am Ende menschengerechtere Arbeitsbedingungen stehen!

 

Anmerkung: Alle Namen und Details wurden zu Zwecke der Anonymität verändert.

Originalartikel vom 31.10.2017 auf www.hrweb.at 

Veronika Jakl

Arbeitspsychologin, Autorin ("Aktiv führen") und Gastgeberin bei den "Pionieren der Prävention".

Begleitet seit 12 Jahren Organisationen dabei motivierende Arbeitsbedingungen zu schaffen und psychische Belastungen zu reduzieren. 
Unterstützt PräventionsexpertInnen, die wirklich etwas bewegen wollen.

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